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Mein Leben mit MS

Aufgrund der frühzeitigen Erschöpfung stehen mir nur sechs Stunden Lebenszeit pro Tag zur Verfügung. Den Rest muss ich schlafen oder kann bestenfalls dösen. Auch muss ich spätestens alle drei Stunden ein kurzes Nickerchen machen. In die Wachzeit passt kaum etwas rein, wenn man die Zeit für Körperpflege, Kochen, Essen, Einkauf, Haushalt, Arzt- und Ämtergänge abzieht. Von hundert Bedürfnissen, die ich pro Tag habe, kann ich daher jeweils nur drei befriedigen.


Um nicht schon mit knapp über 50 bis zum Ende meines Lebens in trostlosester Weise verarmt zu sein, sondern, um zumindest im zweitschlechtesten Hartz4-Status leben zu können, habe ich mich dazu entschlossen, ein Zeitmanagement zu entwickeln, das mir die Erledigung der Rahmen-Notwendigkeiten im Schnitt innerhalb von zwei Stunden pro Tag ermöglicht, damit ich die restlichen vier Stunden für Erwerbsarbeit nutzen kann.

Da ich nicht mehr in der Lage bin, zu fremdbestimmten exakten Zeitpunkten wach zu sein und jederzeit genau das konzentriert zu tun, was man gerade von mir verlangt, ich nicht mehr mehrere Stunden am Stück ohne Schlafpause und bei Bedarf auch nicht länger arbeiten kann, sind Anstellungsverhältnisse allerdings keine Option mehr für mich. Deshalb habe ich das Dienstleistungsgewerbe, das ich vorher nur im gerigfügigen Rahmen nebenberuflich betrieben hatte, zu meinem Hauptberuf gemacht. Hier kann ich mir Aufträge aussuchen, die keinen zu langen Einsatz am Stück erfordern und deren Einsatzzeitpunkte sehr variabel sind. Damit habe ich jetzt an sechs Tagen die Woche im Schnitt vier Stunden pro Tag gefüllt.

Schlafen tu ich dann als erwerbsfähigkeitsgeminderte Teilzeit-Rentnerin.

Für Freizeit steht mir keine Zeit und auch keine Energie mehr zur Verfügung. Das gilt auch für jede Art von Kommunikation, die höchst energieraubend ist und mich erfahrungsgemäß nicht selten für mehrere Tage erschöpft. Wer nicht schon von sich aus den Kontakt zu mir abgebrochen hatte, weil meine Aufmerksamkeit im Keller war, der musste jetzt erleben, dass ich den Kontakt abblockte und einschlafen ließ. Mein soziales Leben ist somit fast bei Null. Kontakte pflege ich fast ausschließlich zu meiner Ursprungsfamilie, ich besuche einmal pro Monat eine Gesprächsgruppe und gehe alle paar Monate für zwei Stunden tanzen. Ist Kommunikation nötig, dann nutze ich möglichst Email. Dieses Medium ermöglicht es mir, den kommunikativen Einsatz zumindest ein wenig an das Maß anzupassen, das mir gerade möglich ist. Das gleiche gilt für Kommunikationsplattformen, bei denen ich den Chat nicht einschalte.

Wäre ich nicht alleinstehend, könnte ich das Arbeitskonstrukt nicht durchziehen. Dann wäre meine Energie an soziales Leben gebunden, ob ich wollte oder nicht.

Wie lange ich meine sozialen Bedürfnisse werde vernachlässigen können, ohne gesundheitlichen Schaden davon zu nehmen, darauf achte ich sehr. Noch geht es gut. Das hat zum einen damit zu tun, dass ich vor Auftreten dieser Krankheitssymptome psychisch sehr gesund und glücklich war und alles, was bis dahin jemals im Argen bei mir gelegen hatte, aufgelöst war. Mein Ausgangspunkt ist daher ein sehr stabiler. Zum anderen liegt es daran, dass ich auch zu wenig Zeit für mich selbst habe und deshalb meiner selbst nicht satt werde. Ein Bedürfnis nach anderen entsteht deshalb nicht und so fühle ich mich nicht einsam.

All das, was soziales Leben ansonsten bewirkt, wird langfristig jedoch vermutlich dazu führen, dass ich die Erwerbsarbeit ganz aufgeben muss, um nicht irre zu werden. Noch habe ich aber Luft, um zu arbeiten und zu schauen, welche sozialen Bedürfnisse sich am stärksten melden. Das kann mir für die Phase nach der Arbeit nützen; denn auch vier Stunden Freizeit sind schnell verbrannt. Es ist dann gut zu wissen, was besonders wichtig ist, um darauf mein bisschen Energie zu konzentrieren.

Ein Manko meines derzeitigen Lebens ist es, dass ich kaum neue Erlebnisse habe. Ich muss sie sogar vermeiden, weil mich alles, was aufregend ist, für Tage oder sogar Wochen erschöpft. Deshalb werte ich mein derzeitiges Leben als Sterbephase. Deshalb und auch, weil ich mich über einige Jahre hinweg kaum an mein früheres Leben erinnern konnte und weil ich nicht mehr die bin, die ich mal war und es auch nie mehr sein werde und meine Welt nicht mehr die selbe ist, die sie mal war und es auch nicht mehr sein wird, ist es mir wichtig geworden meine Biographie und meine Memoiren zu schreiben. Jetzt bin ich gerade geistig wieder einigermaßen dazu in der Lage, mich zu erinnern. Deshalb will ich das schriftlich festhalten und mich damit nochmal emotional auffüllen, bevor es mir vielleicht erneut entgleitet. Diese Aufzeichnungen hier, die ein Teil des Übergangs vom einen in das andere Leben bzw. ein Teil meines Sterbens sind, sind ein Teil der Biographie.

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